24
Hey! Wo soll’s denn hingehen?

In der Wintersonne glänzt ein weißer Pick-up. Er parkt neben dem Rohbau eines Hauses, das auf einem kleinen Hügel über dem Meer entsteht. Das Haus ist ein riesiger Kasten aus Holz, lauter Pfeiler und Erker. Wenn alles fertig ist, wird es auch Gauben, Dachfenster und sogar ein Türmchen haben. Ich stelle mir vor, wie ein reicher Arzt oder ein wohlhabender Anwalt seine Familie hierher zwischen all die Kleinstädter verpflanzen wird, damit sie ihre langen, sonnigen Wochenenden hier verbringen.

Ich sitze da und warte. Die Autotüren sind verriegelt, als wolle ich mich davor schützen, was als Nächstes kommt. Der Wind treibt den Geruch nach Sägespäne und Salz durch meine undichten Fenster. Ich höre, wie drinnen jemand werkelt. Ein Hammer schlägt im Stakkato. Bumm! Bumm! Bumm! Ich atme tief ein und luge zwischen die Kanthölzer, auf der Suche nach dem Hämmernden. Nichts. Ich klappe die Sonnenblende herunter, um noch einmal schnell in den Spiegel zu schauen. Meine Wangen glühen von der künstlichen Röte. Ich habe das Rouge aufgelegt, als handele es sich um einen Balsam, eine Tarnung, ein Produkt, das mich verwandelt – aber in was?

Was wünscht sich ein Mann zu sehen, wenn eine Frau auf ihn zukommt und sagt, sie sei seine Tochter? Möchte er jemanden sehen, der ihm ähnelt? Oder möchte er lieber das Kinn und die beeindruckende Augenfarbe seiner vergessenen Liebe sehen? Ich reibe mit Spucke über meine Wangenknochen und versuche, das Rouge wegzubekommen. Möchte er, dass seine Tochter hübsch ist? Oder sexy? Daran scheint mir etwas verkehrt zu sein. Frauen sollen in den Augen ihrer Liebhaber sexy sein, nicht in denen ihrer Väter. Und doch: Indem ich mit den Fingern das rohe Fleisch zwicke, gestehe ich mir die Wahrheit: Ich sehne mich danach, für ihn hübsch zu sein. Danach, seiner würdig zu sein.

Auf nichts davon habe ich Einfluss. Ein Mann könnte aus diesem Haus kommen, mir einen Blick schenken und nur etwas wie eine vage Enttäuschung verspüren, nur den unwillkommenen Beweis für einen Fehler aus seinem früheren Leben sehen. Ein kalter Schauer läuft mir über die Arme, als mir dieser Gedanke kommt. Was, wenn ich nur ein Fehler bin?

Plötzlich hört das Hämmern auf. Das Krächzen einer Möwe ist der einzige Laut im ganzen Universum. Einige Minuten Schweigen folgen, dann wird ein Radio aufgedreht. Eine laute Werbemelodie ist zu hören.

Hey! Wo soll’s denn hingehen?
Zu Frankies Fischbar!
Da gibt’s leckere Fische und Muscheln – klar …

Jemand kommt auf das zu, was später einmal die Haustür sein wird. Er kommt näher, bis ich ein rotes Hemd, blaue Jeans und riesige, verstaubte Arbeitsstiefel erkennen kann. Ich umklammere das Steuer, als mein Mund plötzlich wie ausgetrocknet ist. Hey! Wo soll’s denn hingehen? Der Mann stützt sich mit den Armen gegen den Türrahmen und blickt nach draußen aufs Meer. Dann wandert sein Blick zu mir. Ich blicke hinunter in meinen Schoß. Ich spüre, wie er näher kommt.

Ich will das Auto per Knopfdruck verriegeln, doch es ist bereits verriegelt. Das kommt mir dumm vor, wo ich doch den ganzen Weg in der Hoffnung gefahren bin, diesen Jemand auf mich zukommen zu sehen. Wieder drücke ich den Knopf, und die Türen entriegeln sich. Der Mann kommt näher. Ich verriegele die Türen wieder, lasse aber das Fenster herunter. Kalte Winterluft strömt herein. Ich starre stur geradeaus und spüre den Mann mehr herankommen, als dass ich ihn sehe. Nach Sekunden, die mir wie Stunden vorkommen, legt sich ein karierter Flanellarm in das Fenster der Fahrertür. Ich höre, wie ich nach Luft schnappe.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss?«

Mein Kopf fährt herum. Was ist das? Diese Stimme klingt jungenhaft, nicht nach dem samtweichen Bass auf Johnny Bellusas Anrufbeantworter. Ich zwinge mich, den Kopf zum Fenster zu drehen, und sehe einen jungen Mann, der mich anstarrt. Seine braunen Augen sind vor Neugier zusammengekniffen. Er kann nicht älter als zweiundzwanzig sein. Er sieht sehr gut aus. Er hat ein unglaublich kantiges Kinn, wie ein Filmstar. Ich setze mich auf. Der junge Mann hat einen leichten Bartschatten, verwuscheltes braunes Haar und Schultern so breit wie die von Mickey Hamilton. Ich kriege den Mund nicht auf.

»Haben Sie sich verfahren oder so?« Der junge Mann kratzt sich die unrasierte Wange. Ich kann nicht glauben, dass ich Mickey einfach so habe gehen lassen – ihn einfach mitten in der Nacht aus dem Bett habe aufstehen und gehen lassen.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Konzentrier dich, denke ich. Sprich. »Mein Name ist Roseanna Plow«, verkünde ich, als wäre das eine Erklärung für alles. Ist es anscheinend aber nicht. Der gut aussehende Jüngling wartet geduldig auf mehr. Ich bin versucht, ihm zu erzählen, dass ich mich verkehrt herum durch den Geburtskanal geackert habe, genau wie Helen es in diesem Moment getan hätte.

»Ich bin Peter DaSilva«, sagt der Mann hilfsbereit. Er streckt die Hand durchs offene Fenster und ich schüttle sie. Ich komme einfach nicht über seinen Anblick hinweg. Er könnte der nächste Mann des Monats in der Cosmopolitan sein. Ich stelle mir vor, wie ich eine Seite umblättere und eine Hochglanzaufnahme seines Waschbrettbauches sehe.

»Ich bin auf der Suche nach Johnny Bellusa«, sage ich ihm.

»Ich arbeite mit Johnny. Na ja, genau genommen für Johnny.«

»Ist er da?«

»Tut mir leid«, sagt er. »Aber heute bin ich allein. Johnny ist auf dem Weinberg, hat eine Besprechung mit den Elektrikern für ein Projekt dort.«

»Auf dem Weinberg?« Die Vorstellung von einem Trauben pressenden Johnny Bellusa geistert durch meine verwirrten Gedanken.

»Auf Martha’s Vineyard«, fügt Peter hinzu. Er deutet mit seinem perfekt modellierten Kinn aufs Meer. »An klareren Tagen als heute kann man die Insel von hier aus sehen.«

Natürlich. Martha’s Vineyard. Warum sollte mein biologischer Vater nicht auf Martha’s Vineyard sein? »Da gibt’s die wirklich lukrativen Projekte«, erklärt Peter.

»Wann kommt er denn zurück?«

»Heute nicht mehr. Aber morgen früh sollte er wieder hier sein.«

Eine Last senkt sich auf meine Brust, und ich beschließe, sie für Enttäuschung zu halten. Aber was macht es schon, einen Tag länger zu warten, nach zweiunddreißig Jahren? Ich atme tief ein. »Und wann?«, frage ich, doch Peter DaSilva lächelt mich an.

»Sobald es hell wird, vermute ich. Kann ich ihm denn etwas ausrichten?«

Ich schüttele verneinend den Kopf.

»Gut«, sagt er. »Dann erzähle ich ihm nur, dass eine hübsche Dame aus New York nach ihm sucht.«

»Danke.« Ich greife nach der Handbremse, damit er nicht sieht, wie ich rot werde.

»Gern geschehen, Roseanna Plow.«

Mein Name ist Roseanna Plow und ich komme besser über den Cape-Cod-Kanal, als ich durch den Geburtskanal gekommen bin. Ich fahre langsam und vorsichtig, bleibe auf der Bourne Bridge in meiner Spur und schaue nicht mal auf die aufgewühlte, winterliche See unter mir. Ich verbringe den Nachmittag mit Autofahren und hoffe, dass mein Bammel ähnlich dahinschmilzt wie mein Benzinpegel. Über die Brücke und wieder zurück. Erst in Richtung meines Zuhauses, dann wieder nach Woods Hole. Komme ich oder gehe ich? Wusste ich das je?

Als ich wieder in Woods Hole bin, hat das Sand’n Surf Motel so viele freie Zimmer, dass der Mann am Empfang mir mehrere Möglichkeiten zur Wahl stellt. »Eins-dreizehn hat einen besseren Kabelempfang, aber keinen Meeresblick«, vertraut der alte Mann in dem Angorapulli mir an und schiebt seine Brille nach oben.

»Wie Sie meinen«, sage ich und trommele mit den Fingern auf die Theke.

Der zerknitterte Angestellte sieht mich verwirrt an, dreht sich dann um und nimmt einen Schlüssel von dem Brett an der Wand. Seine Glatze glänzt im Neonlicht. »Die meisten Leute mögen den Meeresblick, aber es ist ja schließlich Winter«, sinniert er.

Fünf Minuten später versinke ich in einer megaweichen Matratze in einem Zimmer ohne Meeresblick. Die Sonne steht tief hinter dem Fenster. Der Tag entschwindet, die Welt wird grau. Ich liege immer noch im zugeknöpften Mantel und mit geschlossenen Augen auf einer goldenen, karierten Tagesdecke. Die Müdigkeit übermannt mich. Ich atme den Geruch nach Desinfektionsmittel und Salz ein und aus und frage mich, warum ich Peter DaSilva nicht eine Telefonnummer für Johnny Bellusa dagelassen habe. Es wäre besser gewesen, erst von diesem sicheren Zimmer mit der Muscheltapete aus mit meinem Vater zu telefonieren, bevor ich mich entscheide, was ich als Nächstes tue. Stattdessen werde ich zum zweiten Mal die gleiche irritierende Situation durchleben: Die lange verschollene Tochter kommt bei dem halb fertigen Haus an und sitzt glotzend in ihrem Auto mit dem New Yorker Kennzeichen.

Plötzlich vermisse ich Mickey. Wäre es nicht nett, morgen früh mit ihm neben mir auf dem Beifahrersitz über die Albatross Lane zu fahren?

Dafür ist es jetzt zu spät. Ich zwinge mich zu schlafen. Mit etwas Glück muss ich mich dem Leben bis morgen früh nicht mehr stellen.

Es sei denn natürlich, das Handy klingelt.

Plötzlich dröhnt die Polkamelodie in meinen Ohren. Ein blöder Klingelton, den ich ausgewählt habe, um Helen zu ärgern, dann aber nie ausgetauscht habe. Ich wache in totaler Finsternis auf, taste um mich und finde das Handy schließlich auf dem Nachttisch.

»Hallo?«, stammele ich und rappele mich im zugeknöpften Mantel erschöpft auf.

»Roseanna?«

Glück strömt durch meine trägen Venen. Ich wusste, dass er anrufen würde! Ich wusste, dass er mich nicht verlassen hat!

»Hier ist Mickey«, sagt er.

»Ham!«, entfährt es mir.

Er antwortet nicht.

»Es tut mir ja so entsetzlich leid wegen letzter Nacht, Mickey.«

Auch dieses Mal antwortet er nicht. Ich reibe mir die Augen, versuche, einen klaren Kopf zu bekommen. »Wie viel Uhr ist es?«

»Es ist zwanzig Uhr. Wo bist du?«

»Ich bin in meinem Motelzimmer. Ich habe geschlafen.«

»Du hast um acht Uhr abends schon geschlafen?«

Etwas stimmt nicht. Ich richte mich auf, werde hellhörig. »Ich hatte einen schweren Tag«, fange ich an.

»Deshalb bist du zu Bett gegangen, ohne mich wissen zu lassen, dass du angekommen bist?«

»Ich bin nicht wirklich ins Bett gegangen«, verteidige ich mich. »Ich hab mich nur ausgeruht …«

»Wie auch immer. Ich rufe an, um dir wegen Milton Bescheid zu sagen. Er war heute in einen Unfall verwickelt.«

»Was?« Ich springe von dem viel zu weichen Bett auf und lande auf wackeligen Füßen.

»Es geht ihm gut. Und es war nicht so schlimm. Eine Kundin hat ihn und seine Einkaufswagen beim Zurücksetzen mit ihrem Volvo gestreift. Aber er hat nach dir gefragt, also habe ich gedacht, ich rufe dich an.«

»Geht es ihm wirklich gut?«

»Ja.«

»War er beim Arzt?«

»Ja.«

»Und hat jemand seine Mutter angerufen?«

»Ja. Manche von uns machen die Anrufe, die andere erwarten.«

Oh, diese Kälte in seiner Stimme.

»Ich vermisse dich, Mickey, wirklich. Ich hoffe, du verstehst es, dass ich das hier einfach allein durchziehen muss.«

»Na, dann mach mal«, sagt er. »Und wir reden über uns, wenn du damit fertig bist.« Die Leitung ist tot. Und auch in mir stirbt etwas. Ich fahre mit den Fingern durch mein wirres Haar.

Niemand hebt ab, als ich bei Milton zu Hause anrufe. Mein Magen beginnt zu rumoren. Unmöglich, noch länger in Zimmer 113 zu bleiben. Ich spritze mir über dem Becken in dem winzigen rosa Bad ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht. Da ich den Mantel bereits anhabe, breche ich auf, um irgendwo etwas zu Abend zu essen.

Der alte Mann an der Rezeption ist fort. Als ich die Frau, die jetzt Dienst hat, frage, wo ich hingehen kann, verweist sie mich wieder an den Krabbenimbiss »Harte Schale, weicher Kern«. »Es ist das Einzige, was in der Nebensaison geöffnet hat«, sagt sie mir. Ich danke ihr und gehe zum Auto.

Das blinkende Schild des Restaurants ist schon aus einiger Entfernung sichtbar. Im eisigen Winterwind haste ich über den Gehweg. Das Lokal hat sich erstaunlich verändert und ist jetzt am Abend kaum wiederzuerkennen. Die Beleuchtung ist gedämpft und die Tische sind voll besetzt. Im Hintergrund spielt eine Band Lieder von ZZ Top und anderen Gruppen, von denen ich mir vorstellen könnte, dass die Hells Angels sie gut finden. Angetrunkene Leute lachen und unterhalten sich laut über die Musik hinweg. In der verrauchten Luft entdecke ich meine blonde Serviererin vom Mittagessen, die es sich auf einem Barhocker neben einem Typen gemütlich gemacht hat, der aussieht, als sollte er das Wort FISCHER auf die Stirn gestempelt bekommen. Seine sehnigen Arme sind mit Tätowierungen bedeckt, als wäre er der Popeye des neuen Jahrtausends. Irgendwie gelingt es einer wild aussehenden Brünetten mit einem Körper wie einem Hydranten, mich in all dem Trubel und dem Lärm an der Tür zu entdecken. Sie lotst mich an einen Tisch nicht weit von der Gruppe am Tresen, aber Gott sei Dank weit genug weg von der Tanzfläche. Gerade, als ich mich setze, und gerade, als die Band unerklärlicherweise zu einer Country-Ballade übergeht, bleibt mein Blick an einem karierten roten Hemd am Tresen hängen, keine drei Stühle von meiner Mittagsserviererin entfernt. Ich erkenne das Hemd sofort wieder. Es gehört nicht zu der Art von Kleidungsstücken, die ein Mädchen aus Long Island jeden Tag zu Gesicht bekommt.

Ich bestelle einen Cosmopolitan, und die brünette Serviererin bringt ihn im Nu. Ich schlürfe gerade den letzten Rest, während ich auf meinen Fischburger warte, als Peter DaSilva sich auf seinem Barhocker umdreht und mir ein anbetungswürdiges Lächeln schenkt. Dann kommt er zum zweiten Mal an diesem Tag auf mich zu. Ich nehme mir eine Minute, um die Situation zu genießen. Ein Bild von einem Mann, zehn Jahre jünger als Roseanna Plow, steuert auf sie zu, und in seinem Blick ist nichts zu sehen von »grobknochig« oder »alt« oder »pummelig«. Ich würde mir am liebsten eine runter-hauen, weil ich nicht aufgeregter bin.

»Guten Abend, Roseanna Plow«, ruft mein neuer Freund über mich gebeugt und über die Gitarrenklänge hinweg. Als ich durch den Rauch und das Licht in diese fantastischen braunen Augen blicke, merke ich zum ersten Mal, dass der Raum sich um mich dreht.

»Hallo, Mr DaSilva«, sage ich, und meine eigene Stimme kommt mir albern vor.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?«, fragt Peter und grinst lasziv.

Die alberne Stimme sagt Ja, und Peter hebt eine Hand, um der Serviererin ein Zeichen zu geben, bevor er sich auf den Stuhl neben mir fallen lässt. Die Brünette kommt wieder, und ihre Augen glitzern bei unserem Anblick. »Kimberley, Süße«, sagt Peter. »Ein Budweiser für mich und« – er sieht mich aus diesen großen, glänzenden Augen an – »was hättest du gern, Roseanna?«

»Sie trinkt Cosmopolitans«, informiert Kimberley ihn.

»Dann noch einen davon«, sagt Peter.

Kimberley verlässt uns, und ich bin noch nicht zu betrunken, um zu verstehen, wo dieser Abend gerade hinsteuert. In Gedanken beschließe ich, die Situation unter Kontrolle zu halten, aber ich bin mir unsicher, wo ich überhaupt hin will. Ich sehne das Eintreffen meines zweiten Cocktails herbei.

»Wie geht’s dir heute Abend?«, fragt Peter.

»Mir ging’s schon mal besser«, sage ich ihm aufrichtig. »Viel, viel besser.«

»Ist es wegen Johnny Bellusa?«

Ich antworte nicht, das einzig Richtige, was man unter diesen Umständen tun kann.

»Liebst du ihn?«

»Was?«

»Ob du ihn liebst? Denn es würde mir das Herz brechen, wenn du ihn liebst.« Er zwinkert mir zu und sieht mich dann wie ein Westernheld an – halb schmachtend, halb lüstern.

»Ich kenne ihn nicht mal«, gestehe ich. »Ich bin hergekommen, um ihn zu treffen.«

Peter wartet mit seiner Entgegnung, bis Kimberley unsere Getränke gebracht hat. Angesichts seines entzückten Gesichtsausdruckes komme ich mir vor, als gehöre ich zu jener anderen Sorte Frauen, der von Inga und Marcie.

»Warum willst du Johnny treffen?«, fragt er schließlich, nachdem er einen langen Schluck von seinem Bier genommen hat.

Ich nehme einen kräftigen Zug von meinem zweiten Cosmopolitan. »Kennst du ihn gut? Ist er nett?«

»Er ist ein netter Kerl. Aber … ist Johnny nicht ein bisschen zu alt für dich?«

»Zu alt wofür?«

Peter lacht. »Aber, aber«, sagt er und klopft mir auf den Rücken. »Um was immer es geht, so schlimm wird es schon nicht sein.«

Er berührt mich bereits, und das finde ich aus irgendeinem Grund zum Lachen. Klopf, klopf, klopf, wie ein Teddypapa. Ich nippe an meinem Cocktail, um das aufsteigende Kichern zu unterdrücken. Ich hätte gern Helen an meinem Tisch gehabt, damit sie mich tadelnd anstarrt und mir befiehlt: Reiß dich zusammen!

»Jemand, an dem mir sehr viel liegt, wurde heute von einem Volvo angefahren«, sage ich.

»Das ist wirklich schlimm«, sagt Peter und sieht leicht verwirrt aus.

»Und«, füge ich hinzu, »Johnny Bellusa ist mein Vater.«

»Er ist was?«, sagt Peter, schiebt seinen Stuhl zurück und starrt mich an.

»Mein Vater«, wiederhole ich. Ich leere meinen Cocktail. »Ich bin ihm bloß noch nie begegnet.«

Peters Mund klappt auf. »Heilige Scheiße«, sagt er. »Weiß

Johnny, dass du hier bist?«

»Nein.«

»Wo übernachtest du?«

»Im Sand’n Surf.«

Ich sehe ihn an. »Ich wäre fast wieder gefahren. Nachdem wir uns getroffen hatten.«

Peter verschränkt die Arme und denkt darüber nach.

»Meinst du, ich sollte morgen früh wieder hinfahren, um ihn zu sehen?«

Gedankenverloren runzelt er die Stirn. »Vermutlich«, sagt er. »Ich meine, ich denke schon.« Wieder kratzt er sich am Kinn. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es weiß.«

»Ich auch nicht«, gestehe ich. »Ist Johnny Bellusa verheiratet? Hat er Kinder?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagt Peter.

Etwas an seinem Gesichtsausdruck ändert sich, doch er korrigiert ihn eilig.

»Was ist?«, frage ich.

»Johnny ist mehr so ein Frauentyp«, sagt er.

Mein Blick wandert instinktiv zum Tresen, wo meine blonde Serviererin mit ihrem Popeye sitzt. Peter folgt meinem Blick. »Ist das eine von seinen Frauen?«

»Wie kommst du darauf?«, fragt Peter und lacht ein bisschen.

Das ist nicht lustig!, hätte ich am liebsten geschrien, doch Kimberley knallt einen Teller vor mich hin, und bei dem Geruch nach frittiertem Fisch dreht sich mir der Magen um. Ich starre eine Minute darauf und versuche, diese neue Information zu verdauen. Mein Vater ist ein Kneipengänger. Mein Vater lässt nichts anbrennen.

»Kann ich euch noch was bringen?«, fragt Kimberley, sieht erst mich an, dann Peter und dann wieder mich.

»Für mich nichts«, sage ich, und sie geht widerstrebend weg.

»Könnte er etwa heute Abend hier auftauchen?«, frage ich Peter und schiebe den Teller weg. »Mein Vater, meine ich?«

Peter zuckt die Achseln. »Möglich ist alles. Aber wäre das denn schlimm?«

Etwas in meinem müden, schlaffen Rücken versteift sich. Die Vorstellung, Johnny Bellusa in diesem lauten, verrauchten Krabbenimbiss zu treffen, ist unerträglich. »Sehr schlimm«, sage ich und stehe eilig auf. Fast hätte ich den Tisch umgestoßen. »Ich will meinen Vater nicht in irgendeiner Kneipe treffen.«

»Verstehe«, sagt Peter und drückt mich sanft zurück auf den Stuhl. Wieder gibt er unserer Serviererin ein Zeichen und deutet auf meinen Teller. »Kim?«, sagt er. »Könntest du das einpacken? Ich glaube, wir nehmen es mit.«

Fünf Minuten später fahre ich zurück zum Sand’n Surf Motel, gefolgt von einem Zimmermann in einem weißen Pick-up. Ich fliehe vor der Möglichkeit, meinem Vater in einer Kneipe über den Weg zu laufen, bin aber auch drauf und dran, einen Mann mit auf mein Zimmer zu nehmen, den ich kaum kenne, einen Pin-up-Boy, der meinen Vater besser kennt als ich. Warum sollte ich Peter DaSilva nicht mit auf mein Zimmer nehmen?, fragt der betrunkene Teil in mir. Wäre das vernünftig?, erwidert der nüchterne Teil. Ein Freund deines Vaters, den du noch nicht einmal kennengelernt hast. Ich wedele den nüchternen Einwurf beiseite wie Fliegen von einem Salat. Warum sollte ich, eine gesunde, ungebundene zweiunddreißigjährige Frau, nicht einen Kerl, der der Cosmo entsprungen sein könnte, mit ins Sand’n Surf nehmen? Bei Mickey bin ich vermutlich sowieso unten durch. Teddy will sich scheiden lassen. Ich bin endlich, endlich dünn. Und ich bin endlich und wirklich … allein.

Als mir plötzlich grelles Scheinwerferlicht entgegenkommt, steigen mir überraschend Tränen in die müden Augen. Ich umklammere das Steuer und wünsche mir plötzlich Mickey an meine Seite, nur fünf Minuten soll er neben mir sitzen, damit ich wieder klar denken kann. Vor mir tauchen die Lichter des Motels auf, und ich fahre auf den Parkplatz und stelle den Motor ab.

Peter DaSilva lenkt seinen Pick-up auf den Platz hinter meinem. Ich höre, wie er die Tür zuknallt, und mein Herz pocht wie wild gegen meine Rippen. Ich spüre, wie er zu meiner Seite des Autos kommt, und ich bleibe wie erstarrt sitzen. Meine Hände umklammern noch immer das Steuerrad, als würde ich dadurch mein Leben retten. In einer Sekunde wäre es sehr unhöflich, noch länger im Auto sitzen zu bleiben, doch anscheinend will es mir nicht gelingen, die Tür zu öffnen. Stattdessen lasse ich das Fenster herunter und blicke zu dem hübschesten Gesicht auf, das mich jemals mit solchem Verlangen angesehen hat. Hinter ihm leuchtet das ZIMMER FREI in Rot, und im Gegenlicht schimmert sein Haar fast rosa.

»Peter«, sage ich und höre die neue Festigkeit, aber auch die Traurigkeit in meiner Stimme. »Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, dass ein Mann wie du mit mir nach Hause kommt. Aber ob du es glaubst oder nicht, ich kann dich jetzt einfach nicht hereinbitten.«

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